m Musterverfahren nach dem Kapitalanlegermusterverfahrensgesetz (KapMuG) gegen den Finanzdienstleister MLP und einen früheren Vorstandsvorsitzenden hat das Oberlandesgericht Karlsruhe eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Anleger durch Verbreitung fehlerhafter Finanzkennzahlen in Kapitalmarktinformationen in den Jahren 1998 bis 2002 verneint. Zwar hat es Fehler zweier Tochtergesellschaften bei der Bilanzierung von Factoring- und Rückversicherungsgeschäften festgestellt. Der frühere Vorstandsvorsitzende habe hinsichtlich der falschen Finanzkennzahlen aber bereits nicht vorsätzlich gehandelt.

Vor dem Landgericht Heidelberg klagen in 32 Parallelverfahren Aktionäre der MLP AG auf Schadenersatz gegen die Holding und zum Teil gegen ihren früheren Vorstandsvorsitzenden. Sie werfen den beiden Beklagten vor, in den Jahren 1998 bis 2002 fehlerhafte Kapitalmarktinformationen veröffentlicht und die Anleger dadurch vorsätzlich sittenwidrig geschädigt zu haben. Der Gesamtbetrag der Schadensersatzforderungen beläuft sich auf über 30 Millionen Euro. Die Kläger stellten Musterfeststellungsanträge nach dem KapMuG. Nach Erlass eines Vorlagebeschlusses durch das LG führte das OLG Karlsruhe ein Musterverfahren durch.

Die Musterbeklagte zu 1 ist die MLP AG. Sie ist die Führungsholding der aus mehreren Gesellschaften bestehenden MLP-Gruppe, die Bank- und Versicherungsdienstleistungen erbringt. Der Musterbeklagte zu 2 war ab 1998 Vorstandsvorsitzender der AG. Eine maßgebliche Rolle spielen in diesem Verfahren zwei Tochtergesellschaften, die MLP Finanzdienstleistungen AG (MLP FDL) und die – mittlerweile veräußerte – MLP Lebensversicherung AG (MLP Leben). Während die MLP Leben unter anderem eigene fondsgebundene Lebensversicherungen anbot, betätigte sich die MLP FDL als Versicherungsmaklerin, wozu sie sich selbstständiger Handelsvertreter bediente. Die Produkte der MLP Leben wurden über ein Vertriebsnetz von Vermittlern der MLP FDL vertrieben. Die MLP FDL erhielt aufgrund eines mit der MLP Leben geschlossenen Courtagevertrages für die Vermittlung von Lebensversicherungsverträgen Provisionen. Die Provisionsauszahlung wurde im Gegensatz zu dem in dieser Zeit branchenüblichen Provisionsmodell auf die Dauer der Beitragszahlung, höchstens jedoch auf zwölf Jahre,verteilt.

Die der MLP FDL zukünftig zustehenden Provisionen aus dem Versicherungsgrundgeschäft waren Gegenstand von Factoringverträgen. Die Einnahmen aus diesen Factoringgeschäften wurden in den nach den Vorschriften des HGB zu erstellenden Jahresabschlüssen der MLP FDL in voller Höhe als Erträge verbucht. Rückstellungen für das Risiko des Bestands und der Durchsetzbarkeit der abgetretenen Forderungen wurden jedoch in den Jahren 1998 bis 2001 nicht oder nur in geringem Umfang gebildet. Die MLP Leben vereinbarte mit einem Rückversicherer die Übernahme eines Teils der Risiken und Prämien. Für die Übernahme dieser Risiken sollte die MLP Leben Rückversicherungsbeiträge leisten, umgekehrt wurde die Zahlung von Rückversicherungsprovisionen an die MLP Leben vereinbart. Die aus dem Rückversicherungsvertrag erzielten Provisionen wurden in den Bilanzen der MLP Leben ertragswirksam ausgewiesen. Rückstellungen für Verbindlichkeiten wurden für das Rückversicherungsgeschäft nicht gebildet.

Der Musterkläger begehrt Schadenersatz mit der Begründung, es seien fehlerhafte Kennzahlen aus Konzernbilanzen sowie Gewinn- und Verlustrechnungen verbreitet worden, die auf der bilanziellen Behandlung der Erträge aus den Factoring- und Rückversicherungsgeschäften der beiden Tochtergesellschaften beruhten.

Das OLG hat festgestellt, dass die MLP FDL gegen das gesetzliche Gebot zur Bildung von Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten verstoßen hat. Sie habe Erlöse aus den von ihr in den Jahren 1998 bis 2001 betriebenen Factoringgeschäften gewinnerhöhend in die Gewinn- und Verlustrechnung eingestellt, aber die gesetzlich vorgeschriebenen Rückstellungen für daraus resultierende Einstandspflichten gegenüber dem jeweiligen Factor nicht gebildet und nicht gewinnmindernd in der Gewinn- und Verlustrechnung ausgewiesen. Außerdem habe die MLP Leben im Zeitraum vom 01.01.2001 bis zum 31.12.2002 gegen ihre Passivierungspflicht verstoßen. Denn sie habe für Rückversicherungsprovisionen aus einem Rückversicherungsvertrag keine passiven Rechnungsabgrenzungsposten gebildet, obwohl dies wegen des Provisionsmodells erforderlich gewesen wäre.

Anschließend hat das OLG festgestellt, dass jede auf der fehlerhaften Bilanzierungspraxis beruhende Kennzahl zum Konzernergebnis und Konzernumsatz der MLP AG fehlerhaft war.

Eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Anleger durch den Vorstandsvorsitzenden verneint das OLG. Hinsichtlich einer vorsätzlichen Verbreitung unrichtiger Kennzahlen könne schon nicht festgestellt werden, dass der frühere Vorstandsvorsitzende bei der Veröffentlichung der fehlerhaften Kennzahlen zum Konzernergebnis oder Konzernumsatz in Kapitalmarktinformationen zumindest mit bedingtem Vorsatz gehandelt habe. Gegen eine vorsätzliche Veröffentlichung fehlerhafter Bilanzkennzahlen sprächen unter anderem Umfang und Erkennbarkeit der festgestellten Bilanzierungsfehler. Der Rückstellungsbedarf aus den Factoringgeschäften habe nur mit erheblichem Aufwand und fundierten bilanzrechtlichen und versicherungsmathematischen Kenntnissen ermittelt werden können.

Hinzu komme, dass der festgestellte Rückstellungsbedarf nicht den Schluss zulasse, dass von einer gravierenden Abweichung der zu beachtenden Bilanzierungsgrundsätze gesprochen werden könne. Es liege insoweit jedenfalls keine grobe Unrichtigkeit der Bilanz vor. Auch habe kein Anlass für die Annahme bestanden, dass wegen der unterlassenen Rückstellungen für Factoringgeschäfte konkrete Schadensfolgen bei den Anlegern zu erwarten gewesen seien. Der errechnete Rückstellungsbedarf aus den Factoringgeschäften führe nicht dazu, dass die von MLP AG veröffentlichten Gewinnwachstumsraten von 30% signifikant unterschritten worden wären. Auch bei einer Berücksichtigung des Rückstellungsbedarfs hätte für die Geschäftsjahre 1998 bis 2001 ein stetig ansteigendes Konzernergebnis zwischen 46,5 Millionen Euro und 145,4 Millionen Euro ausgewiesen werden können.

Mangels grober Unrichtigkeit der Bilanzierung fehlt es laut OLG auch an einem Umstand, der die Sittenwidrigkeit begründen könnte. Ein sittenwidriges Verhalten liege nur dann vor, wenn die Handlung gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstoße. Gemessen daran seien die Voraussetzungen schon aufgrund der Komplexität der Bilanzierungsfragen und der relativ geringen Auswirkungen auf das Bilanzergebnis nicht erfüllt.

Hinsichtlich des Verstoßes der MLP Leben gegen die Passivierungspflicht im Zusammenhang mit dem Rückversicherungsgeschäft scheide eine vorsätzliche Veröffentlichung fehlerhafter Bilanzkennzahlen von vornherein aus, so das OLG weiter. Der Verstoß gegen die Passivierungspflicht habe eine nachvollziehbare Grundlage in der damals üblichen Bilanzierungspraxis. Für das hier vereinbarte neuartige Provisionsmodell habe es nach den Ausführungen des Sachverständigen seinerzeit keine publizierten Bilanzierungsgrundsätze gegeben. Demzufolge seien auch Anhaltspunkte, die hinsichtlich der Bilanzierung des Rückversicherungsgeschäfts den Vorwurf der bewussten Schädigung und der Sittenwidrigkeit rechtfertigen könnten, nicht ersichtlich.

OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16.11.2012 – 17 Kap 1/09

(Quelle: Beck online)