Wer körperlich angegriffen wird, darf sich mit dem mildesten Abwehrmittel verteidigen, das er zur Hand hat und mit dem der Angriff sofort und endgültig abgewehrt werden kann. Wie das Oberlandesgericht Hamm jetzt klarstellte, muss dabei nicht auf weniger gefährliche, in ihrer Abwehrwirkung zweifelhafte Verteidigungsmittel zurückgegriffen werden. Auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang müsse sich der Angegriffene nicht einlassen.
Der zur Tatzeit 23 Jahre alte Angeklagte, ein Schüler aus dem Kreis Altenkirchen in Rheinland-Pfalz, war wegen gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil des zur Tatzeit 23 Jahre alten Nebenklägers, eines Anlagenmechanikers aus dem Kreis Siegen-Wittgenstein, angeklagt worden. Dem Angeklagten wurde zur Last gelegt, am Morgen des 07.06.2012 auf einer Straße in Kreuztal (Kreis Siegen-Wittgenstein) den Nebenkläger als «Kanaken» beschimpft und ihm sodann mit einem Bierglaskrug gegen den Kopf geschlagen zu haben.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts kam es am Tattag zunächst zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen dem Nebenkläger und seinem Bekannten einerseits und der aus dem Angeklagten und mehreren Begleitern bestehenden Gruppe andererseits. Nach anfänglichen wechselseitigen Beschimpfungen, an denen sich der Angeklagte nicht beteiligte, näherten sich der Nebenkläger und sein Bekannter der Gruppe, wobei der Nebenkläger in Richtung der Gruppe des Angeklagten fragte, ob sie «Stress» und etwas auf die «Fresse» haben wollten. Als der Nebenkläger den seitlich neben dem Angeklagten stehenden Begleiter erreicht hatte, schlug er ihn mit der Faust ins Gesicht und traf ihn im Bereich seines Unterkiefers. Unmittelbar darauf machte der Angeklagte einen Schritt auf den Nebenkläger zu und schlug diesen mit einem Bierglaskrug, den er bereits zuvor in der Hand gehalten hatte, gegen den Kopf. Er wollte seinem Begleiter zu Hilfe kommen. Hierdurch erlitt der Nebenkläger eine Platzwunde, ein Hämatom und eine Gehirnerschütterung.
Mit seiner Revisionsentscheidung hat das OLG jetzt den Freispruch des Angeklagten durch das Landgericht bestätigt, weil die Tat des Angeklagten durch Nothilfe gemäß § 32 StGB gerechtfertigt sei. Eine Nothilfelage habe vorgelegen. Der Angeklagte habe – wie das Berufungsgericht zutreffend festgestellt habe – gehandelt, um einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff des Nebenklägers auf seinen Begleiter abzuwenden. Der Angeklagte habe zum Zeitpunkt seines Schlages annehmen müssen, dass der Nebenkläger seinen Begleiter weiter schlagen werde. Das ergebe sich daraus, dass der Nebenkläger den Angegriffenen bedroht habe, nach seinem Schlag nicht zurückgewichen sei und seinerseits noch Rückendeckung durch den hinter ihm stehenden Bekannten gehabt habe. Der Angeklagte habe mit dem Willen gehandelt, seinen angegriffenen Begleiter zu verteidigen.
Seine Nothilfehandlung sei auch erforderlich gewesen. Er habe sich eines Abwehrmittels bedienen dürfen, das er zur Hand gehabt habe und mit dem der Angriff sofort und endgültig abzuwehren gewesen sei. Das schließe – in Ausnahmefällen und als letztes Verteidigungsmittel – den Einsatz lebensgefährlicher Mittel ein. Auf weniger gefährliche, in ihrer Abwehrwirkung zweifelhafte Verteidigungsmittel habe der Angeklagte nicht zurückgreifen, auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang habe er sich nicht einlassen müssen. Ausgehend hiervon sei der Schlag mit dem Glaskrug gerechtfertigt gewesen. Der Schlag habe die sofortige und endgültige Beseitigung des Angriffs erwarten lassen. Dabei habe der Angeklagte sich nicht auf ein bloßes Wegschubsen des Nebenklägers, einen Schlag mit seiner freien linke Hand – er sei Rechtshänder – oder darauf einlassen müssen, den Glaskrug zunächst wegzustellen, um dann mit der bloßen Faust zuzuschlagen. Auch habe er einen Schlag mit dem Krug nicht zuvor androhen müssen. Diesbezügliche Überlegungen anzustellen hätte bereits zu einer zeitlichen Verzögerung geführt, die eine erneute Attacke des angreifenden Nebenklägers begünstigt hätte. Es sei zudem zweifelhaft, ob die dargestellten Möglichkeiten zur sofortigen Beseitigung der Gefahr geeignet gewesen seien.
Die Nothilfehandlung des Angeklagten sei auch geboten gewesen. Da die Beleidigungen des Nebenklägers und dessen Bekannten von einem Dritten aus der Gruppe um den Angeklagten (ohne, dass auch nur eine Billigung dieser Äußerungen durch den Angeklagten feststellbar war) ausgegangen waren, sei sein Nothilferecht nicht eingeschränkt gewesen.
OLG Hamm, Urteil vom 15.07.2013 – 1 RVs 38/13
(Quelle: Beck online)