Der Verschuldensbegriff im Entgeltfortzahlungsrecht entspricht nicht dem allgemeinen zivilrechtlichen Verschuldensbegriff, der auch mittlere und leichte Fahrlässigkeit umfasst, sondern setzt ein besonders leichtfertiges, grob fahrlässiges oder vorsätzliches Verhalten gegen sich selbst voraus. Mit dieser Begründung hat das hessische Landesarbeitsgericht eine Entgeltfortzahlung nach einer mutwilligen Selbstverletzung bejaht. Die Revision wurde nicht zugelassen.
Der Kläger arbeitet als Warenauffüller in einem Baumarkt in Osthessen und benutzt dazu einen Gabelstapler. Anfang August 2012 brachte sich der Kläger an dem Gabelstapler ein provisorisches Plexiglasdach als Wetterschutz an. Dafür wurde er von dem betrieblichen Sicherheitsbeauftragten gerügt und zum Abbau des Plexiglasdaches angehalten. Darüber geriet er derart in Wut, dass er im Zuge des Wutanfalls unter anderem mindestens dreimal mit der Faust auf ein in der Nähe aufgestelltes Verkaufsschild aus Hohlkammerschaumstoff schlug und sich dabei die Hand brach.
Er war vom 09.08. bis einschließlich 10.09.2012 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Seine Arbeitgeberin verweigerte hierfür die Entgeltfortzahlung von insgesamt 2.662,52 Euro brutto mit dem Einwand, der Kläger sei an seiner Verletzung selbst schuld. Spätestens nach dem ersten Schlag auf das Verkaufsschild hätte er die Holzstrebe spüren müssen. Die Verletzung habe er sich somit vorsätzlich beigebracht.
Das Arbeitsgericht Offenbach wie auch das Hessische Landesarbeitsgericht haben der Entgeltfortzahlungsklage dennoch stattgegeben. Denn der Verschuldensbegriff im Entgeltfortzahlungsrecht entspreche nicht dem allgemeinen zivilrechtlichen Verschuldensbegriff, der auch mittlere und leichte Fahrlässigkeit umfasst, sondern erfordere vielmehr einen groben Verstoß gegen das eigene Interesse eines verständigen Menschen. Dieses setze ein besonders leichtfertiges, grob fahrlässiges oder vorsätzliches Verhalten gegen sich selbst voraus, befand das LAG in letzter Instanz.
Ein solches Verschulden des Klägers lag nach Ansicht des LAG nicht vor. Es sei nicht ersichtlich, dass er seine Verletzung bewusst herbeiführen wollte – es habe nur mittlere Fahrlässigkeit vorgelegen. Der Kläger hätte bei verständiger Betrachtung allerdings damit rechnen müssen, dass er durch die Schläge auf das Schild eine Verletzung riskiert. Gegen eine grobe Fahrlässigkeit spreche jedoch, dass er sich offensichtlich in einem heftigen Wut- und Erregungszustand befunden und sich dementsprechend kurzzeitig nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Das sei nicht zu billigen, aber menschlich gleichwohl nachvollziehbar, da niemand in der Lage sei, sich jederzeit vollständig im Griff zu haben. Der Kläger habe aus Wut und Erregung die erforderliche Kontrolle über sein Handeln verloren. Dies sei sicher leichtfertig gewesen, aber nicht derart schuldhaft, dass von besonderer Leichtfertigkeit oder grober Fahrlässigkeit die Rede sein könne.
LAG Hessen, Urteil vom 23.07.2013 – 4 Sa 617/13
(Quelle: Beck online)