Die Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG verpflichtet den Arbeitgeber, geeignete und angemessene Vorkehrungsmaßnahmen zu ergreifen, insbesondere um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufs und den beruflichen Aufstieg zu ermöglichen. In seinem Urteil vom 11.04.2013 hat der Europäische Gerichtshof klargestellt, dass eine heilbare oder unheilbare Krankheit, die eine physische, geistige oder psychische Einschränkung mit sich bringt, einer Behinderung gleichzustellen sein kann. Auf die Verwendung besonderer Hilfsmittel komme es für Feststellung einer Behinderung nicht an.
Die Richtlinie über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (2000/78/EG) schafft einen allgemeinen Rahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung unter anderem wegen einer Behinderung. Diese Richtlinie wurde mit den dänischen Rechtsvorschriften über das Verbot der Ungleichbehandlung auf dem Arbeitsmarkt umgesetzt. Außerdem sieht das dänische Arbeitsrecht vor, dass ein Arbeitgeber den Arbeitsvertrag mit einer «verkürzten Kündigungsfrist» von einem Monat beenden kann, wenn der betreffende Arbeitnehmer innerhalb der letzten zwölf Monate krankheitsbedingt 120 Tage mit Entgeltfortzahlung abwesend war.
Im vorliegenden Fall hat HK Danmark, eine dänische Gewerkschaft, zwei Schadenersatzklagen im Namen zweier Arbeitnehmerinnen wegen deren Entlassung mit verkürzter Kündigungsfrist erhoben. HK Danmark macht geltend, dass die Arbeitgeber den beiden Arbeitnehmerinnen eine Arbeitszeitverkürzung hätten anbieten müssen, da bei ihnen eine Behinderung vorgelegen habe. Auch sei die nationale Bestimmung über die verkürzte Kündigungsfrist auf diese beiden Arbeitnehmerinnen nicht anwendbar, da ihre krankheitsbedingten Fehlzeiten auf die Behinderung zurückzuführen seien.
Das See- und Handelsgericht, Dänemark, bei dem diese beiden Rechtssachen anhängig sind, hat den EuGH um Erläuterung des Begriffs der Behinderung ersucht. Es möchte auch wissen, ob die Arbeitszeitverkürzung als eine angemessene Vorkehrungsmaßnahme angesehen werden kann und ob das dänische Gesetz über die verkürzte Kündigungsfrist gegen das Unionsrecht verstößt.
Der EuGH stellt zunächst klar, dass der Begriff «Behinderung» dahin auszulegen ist, dass er einen Zustand einschließt, der durch eine ärztlich diagnostizierte heilbare oder unheilbare Krankheit verursacht wird, wenn diese Krankheit eine Einschränkung mit sich bringt, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können, und wenn diese Einschränkung von langer Dauer ist. Der Gerichtshof führt aus, dass der Begriff «Behinderung», anders als die Arbeitgeber in diesen beiden Rechtssachen geltend machen, nicht unbedingt den vollständigen Ausschluss von der Arbeit oder vom Berufsleben impliziert. Ferner hänge die Feststellung des Vorliegens einer Behinderung nicht von der Art der zu treffenden Vorkehrungsmaßnahmen, wie zum Beispiel der Verwendung besonderer Hilfsmittel, ab. Es sei Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob bei den Arbeitnehmerinnen im vorliegenden Fall Behinderungen vorlagen.
Der EuGH weist sodann darauf hin, dass die Richtlinie den Arbeitgeber verpflichtet, geeignete und angemessene Vorkehrungsmaßnahmen zu ergreifen, insbesondere um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufs und den beruflichen Aufstieg zu ermöglichen. Er stellt fest, dass eine Arbeitszeitverkürzung, selbst wenn sie nicht unter den in der Richtlinie ausdrücklich erwähnten Begriff des «Arbeitsrhythmus» falle, in Fällen, in denen sie es dem Arbeitnehmer ermöglicht, seine Arbeit weiter auszuüben, als eine geeignete Vorkehrungsmaßnahme angesehen werden kann. Es sei jedoch Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob die Verkürzung der Arbeitszeit als Vorkehrungsmaßnahme im vorliegenden Fall eine unverhältnismäßige Belastung der Arbeitgeber darstellt.
Der EuGH stellt weiter fest, dass die Richtlinie einer nationalen Bestimmung, nach der ein Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag mit einer verkürzten Kündigungsfrist beenden kann, wenn der behinderte Arbeitnehmer innerhalb der letzten zwölf Monate krankheitsbedingt 120 Tage mit Entgeltfortzahlung abwesend war, entgegensteht, wenn diese Fehlzeiten darauf zurückzuführen sind, dass der Arbeitgeber nicht die geeigneten und angemessenen Vorkehrungsmaßnahmen ergriffen hat, damit die behinderte Person arbeiten kann.
Schließlich äußert sich der EuGH zu der Frage, ob die nationale Bestimmung über die verkürzte Kündigungsfrist zu einer Diskriminierung von Menschen mit Behinderung führen kann. Er führt aus, dass die nationale Bestimmung in gleicher Weise auf behinderte und nichtbehinderte Menschen anwendbar ist, die krankheitsbedingt mehr als 120 Tage abwesend sind. Es könne daher nicht davon ausgegangen werden, dass sie eine unmittelbar auf der Behinderung beruhende Ungleichbehandlung schafft. Allerdings sei ein behinderter Arbeitnehmer einem höheren Risiko ausgesetzt, dass ihm gegenüber die verkürzte Kündigungsfrist angewandt wird, als ein nicht behinderter Arbeitnehmer. Denn er trage ein zusätzliches Risiko, an einer mit seiner Behinderung zusammenhängenden Krankheit zu erkranken. Diese Bestimmung könne demnach behinderte Arbeitnehmer benachteiligen und so zu einer mittelbar auf der Behinderung beruhenden Ungleichbehandlung führen.
Der Gerichtshof antwortet, dass die Richtlinie einer solchen nationalen Bestimmung entgegensteht, es sei denn, die Bestimmung verfolge ein rechtmäßiges Ziel und gehe nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinaus. Dies zu prüfen sei Sache des nationalen Gerichts ist. Dieses müsse unter Berücksichtigung des Wertungsspielraums, der den Mitgliedstaaten im Bereich der Sozial- und Beschäftigungspolitik zukommt, prüfen, ob der dänische Gesetzgeber es bei der Verfolgung der rechtmäßigen Ziele, die Einstellung kranker Personen einerseits und ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den widerstreitenden Interessen des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers andererseits zu fördern, unterlassen hat, relevante Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die insbesondere Arbeitnehmer mit Behinderung betreffen.
EuGH, Urteil vom 11.04.2013 – C-335/11; C-337/11
(Quelle: beck online)