Die Kosten einer prädiktiven Gendiagnostik eines gesunden Versicherten stellen keine medizinisch notwendige Heilbehandlung im Sinne des § 192 Abs. 1 VVG dar und sind somit nicht erstattungsfähig. Der Versicherte kann nach einem Urteil des Landgerichts Stuttgart nicht erwarten, dass grenzenlos alle, nicht im Zusammenhang mit einer Erkrankung stehenden Untersuchungen seines Körpers vom Leistungsumfang der Krankenversicherung erfasst sind.
Die Klägerin begehrt als Vertragspartnerin der beklagten Versicherungsgesellschaft aus einem 1998 abgeschlossenen Krankenversicherungsvertrag die Erstattung eines Rechnungsbetrages aus dem Juni 2011 für die Durchführung einer prädiktiven Gendiagnostik. Die Klägerin hatte aufgrund von früheren Erkrankungen Familienangehöriger die Sorge, dass bei ihr das genetische Risiko einer Kanziomerkrankung erhöht sei. Die Parteien sind übereinstimmend der Meinung, dass es sich bei der prädiktiven Gendiagnostik weder um eine medizinisch notwendige Heilbehandlung, noch um eine ambulante Vorsorgeuntersuchung zur Früherkennung von Krankheiten nach gesetzlich eingeführten Programmen im Sinne des § 192 Abs. 1 VVG und des § 1 Abs. 2 der in den Vertrag einbezogenen AVB handelt. Die Klägerin steht indes abweichend von der Beklagten auf dem Rechtsstandpunkt, dass die prädiktive Gendiagnostik dennoch Gegenstand des gesetzlichen und vertraglichen Leistungsumfanges der privaten Krankenversicherung nach § 192 Abs. 1 VVG, § 1 Abs. 2 AVB sei.
Nach Auffassung des LG Stuttgart steht der Klägerin kein Anspruch auf Erstattung des Rechungsbeitrages zu, da die prädiktive Gendiagnostik als Untersuchung eines gesunden Menschen keine medizinisch notwendige Heilbehandlung im Sinne des § 192 Abs. 1 VVG darstellt. Die Vorschrift enthalte auch keine planwidrige Regelungslücke, die durch richterliche Rechtsfortbildung geschlossen werden müsse. Der Wortlaut des § 192 Abs. 1 VVG sei eindeutig, die prädiktive Gendiagnostik sei nicht erfasst. Die prädiktive Gendiagnostik habe das Ziel der positiven oder negativen Einschätzung eines genetisch erhöhten Erkrankungsrisikos. Eine solche Untersuchung werde gerade dann vorgenommen, wenn die Erkrankung noch nicht vorliegt. Eine medizinisch notwendige Heilbehandlung setze aber begrifflich eine Erkrankung voraus. Die Klägerin dagegen sei nicht krank gewesen und habe einer Heilbehandlung nicht bedurft.
Ob eine prädiktive Gendiagnostik in Zukunft Bestandteil des gesetzlichen Leistungsumfangs des § 192 Abs. 1 VVG werden soll, sei eine rechtspolitische Frage. Dementsprechend sei die medizinische und versicherungswirtschaftliche Fachdiskussion zu Nutzen und Kosten der prädiktiven Gendiagnostik auch keine der richterlichen Rechtsfortbildung, sondern vielmehr eine der Rechtspolitik.
Ein Anspruch ergebe sich auch nicht aus dem Versicherungsvertrag in Verbindung mit § 1 Abs. 2 AVB. § 192 Abs. 1 VVG eröffne zwar die Möglichkeit auch weitere Leistungen in den Versicherungsvertrag einzubeziehen. Die prädiktive Gendiagnostik sei aber von den Parteien nicht zum Vertragsgegenstand gemacht worden.
Auch der von der Klägerin angesprochene § 305c Abs. 2 BGB sei nicht einschlägig, weil § 1 Abs. 2 AVB keine Grundlage für Auslegungszweifel enthalte. Die Klausel entspreche nach Aufbau und Inhalt nahezu wörtlich der gesetzlichen Regelung des § 192 Abs. 1 VVG. Die nahezu gesetzesgleiche Regelung des § 1 Abs. 2 AVB könne niemanden überraschen und sie eröffne nach § 307 BGB eine nur ganz eingeschränkte Inhaltskontrolle der Vertragsbedingungen. Der Versicherte könne nicht erwarten, dass grenzenlos alle, nicht im Zusammenhang mit einer Erkrankung stehenden Untersuchungen seines Körpers vom Leistungsumfang der Krankenversicherung erfasst sind. Die gesetzeskonforme Eingrenzung des vertraglichen Leistungsumfangs auf den vom Gesetz vorgesehenen Bereich benachteilige den Versicherten daher nicht.
Auch eine Vertragsauslegung gemäß §§ 133, 157 BGB führe nicht dazu, dass nach dem übereinstimmenden (mutmaßlichen) Parteiwillen die Kosten der prädiktiven Gendiagnostik Gegenstand des Versicherungsvertrages sein sollen. Die Klägerin konnte beim Vertragsschluss aus Sicht des objektiven Empfängerhorizonts nicht davon ausgehen, dass ein frei gewählter Leistungsumfang und Tarif automatisch mehr biete, als im Gesetz vorgesehen, so das LG Stuttgart.
LG Stuttgart, Urteil vom 19.12.2012 – 13 S 131/12
(Quelle: Beck online)