Das Oberlandesgericht Stuttgart hat am 30.03.2016 der Berufung einer Bausparerin stattgegeben, die sich gegen die Kündigung ihres Bausparvertrages wehrt. Ihre Bausparkasse hatte ihr 22 Jahre nach Eintritt der Zuteilungsreife gekündigt und sich dabei auf § 489 Abs. 1 Nr. 2 BGB berufen, wonach ein Darlehensnehmer das Darlehen zehn Jahre nach dessen vollständigem Empfang kündigen kann. Die Revision zum Bundesgerichtshof hat der Senat zugelassen, weil die Frage der Anwendung dieser Norm auf zuteilungsreife Bausparverträge grundsätzliche Bedeutung hat und andere Oberlandesgerichte eine gegenteilige Auffassung vertreten.
Die Klägerin hatte 1978 einen Bausparvertrag mit einer Bausparsumme von 40.000 DM (20.451,68 Euro) abgeschlossen. Für die Laufzeit erhielt sie für von ihr eingezahlte Raten einen Guthabenzinssatz von 3 % p. a. bei einem Bauspardarlehenszinssatz von 5 % p. a. Nach der Zuteilungsreife ihres Vertrags im Jahr 1993 stellte die Bausparerin die regelmäßige Zahlung der Sparraten ein, ohne ein Bauspardarlehen in Anspruch zu nehmen. Im Januar 2015, also knapp 22 Jahre nach Eintritt der Zuteilungsreife, kündigte die Bausparkasse den Bausparvertrag. Das Bausparguthaben belief sich zu diesem Zeitpunkt auf etwa 15.000 Euro, die Bausparsumme war also nicht vollständig angespart.
Während das Landgericht Stuttgart die Klage der Frau wegen der Kündigung ihres Bausparvertrags abwies, hat das OLG auf die Berufung der Bausparerin der Klage stattgegeben und das vorinstanzliche Urteil zu ihren Gunsten abgeändert. Der Senat hält die Kündigung der Bausparkasse für unberechtigt. So könne sich die Bausparkasse nicht auf die Vorschrift des §489 Abs. 1 Nr. 2 BGB berufen, wonach ein Darlehensnehmer das Darlehen zehn Jahre nach dessen vollständigem Empfang kündigen kann. Denn nach den Allgemeinen Bausparbedingungen (§ 5 Abs. 1 ABB) sei der Bausparer verpflichtet, Regelsparbeiträge bis zur erstmaligen Auszahlung der Bausparsumme zu zahlen. Vor Ende dieser Pflicht habe die Bausparkasse das als Darlehen anzusehende Guthaben nicht vollständig empfangen, so das OLG. Der Zeitpunkt der Zuteilungsreife spiele nach den Vertragsbedingungen keine Rolle.
Entgegen der Auffassung der Bausparkasse ist laut OLG die gesetzliche Kündigungsvorschrift auch nicht analog anwendbar. Die überlange Vertragsdauer beruhe zwar auf der vertragswidrigen Einstellung der Sparleistungen durch die Bausparerin. Diese müsse die Bausparkasse aber nicht hinnehmen: Nach den Vertragsbedingungen könne sie die Bausparerin auffordern, die vertraglich geschuldeten Sparbeiträge wieder zu leisten. Werde der Aufforderung nicht Folge geleistet, habe die Bausparkasse ein (kurzfristiges) vertragliches Kündigungsrecht und es dadurch selbst in der Hand, eine überlange Bindung an den Vertragszinssatz zu verhindern.
Im Fall der ordnungsgemäßen Vertragsdurchführung wäre die Bausparsumme innerhalb von zehn Jahren ab Zuteilungsreife vollständig angespart worden, so das OLG weiter. Wenn die Bausparkasse selbst – möglicherweise im eigenen Interesse – ein faktisches Ruhen des Bausparvertrages erlaube und ein vertragliches Kündigungsrecht nicht nutze, sei sie nicht schutzbedürftig und könne sich nicht später auf eine analoge Anwendung eines gesetzlichen Kündigungsrechts berufen.
Urteil OLG Stuttgart vom 30.03.2016 – Az. 9 U 171/15